Einbrechende Fernsehquoten, Donald Trump und eine Umdefinition des Prominenzbegriffs - all das sind die empirischen Auswirkungen einer Veränderungen in vor allem jungen Köpfen. Es vollzieht sich eine Umwertung der Werte die Authentizität auf eine Ebene mit Kompetenz zu den führenden Ansprüchen der Konsumenten an Medien und Unterhaltung transzendiert. Betrachtet man jugendliches Konsumverhalten erkennt man schnell, dass die tradierte Distanz zwischen Rezipienten und Medium, Konsumenten und Unterhalter vollkommen outdated ist. Das öffentliche Fernsehen, das vor subtiler Unpersönlichkeit strotzt, ist, nicht nur deswegen, für die Jugend zu großen Teilen uninteressant.
Der Jugendliche erwartet stattdessen vom medialem oder unterhaltendem Gegenüber, dass Er oder Sie “real” ist, ein Begriff der vor allem in der Hip-Hop-Jugendkultur zirkuliert. Das Wort “real” geht in diesem Fall über die Semantik der Existenz hinaus und bezeichnet eine umfassende Personenzeichnung, die klar dezidierte Werte postuliert und hinter ihnen steht. Die Person von öffentlichem Interesse avanciert zu einem lebendigen Charakter, den man beim Einkaufen begleitet, deren Essgewohnheiten man kennt und der durch offen zur Schau gestellte Non-Perfektion zum Symphatieobjekt wird. Subliminial wird Er oder Sie als Ehrenmitglied der Familie verstanden, so nah rückt man dem “Youtuber”, Musiker oder sonstigen Sternchen bis Star.
Diese “Vermenschlichung” ist ein im Grunde die logische Konsequenz eines lang anhaltenden Prozesses, dem man im Alltag häufig begegnet, sei es bei Reportagen über Politiker oder bei dem instinktiven Interesse gegenüber der Vita des Lieblingsautors. Die ins Unterträgliche gesteigerte Perversion dieser Mechanik ist die Boulevard-Presse und alles was man hierunter subsumieren kann.
Der Motor allerdings, durch den diese Entwicklung ungeahnte Ausmaße erreicht, ist das Internet. Facebook, Twitter und Mitvernetzungsfabriken ist es inhärent, dass das eigene Leben in den Mittelpunkt rückt, und zum publikumsfähigen Ausstellungsstück ummodelliert wird. Youtube und andere Videoplattformen indes, als wachsende Medien, die eine gewaltige Bandbreite bieten, sind wohl die Portale mit der größten Nähe zum Produzenten. In sogenannten V-logs, eine Art Videotagebüchern sieht man Menschen im normalen Alltag mit normalen Problemen konfrontiert, ein Konzept das entgegen vieler Erwartungen gut funktioniert. Der Moderator oder Comedian, der im Fernsehen seinen Job macht, wird abgelöst von der Social-Media-Gestalt, die ganzes Leben in kleinen, gut bekömmlichen Häppchen teilt. Es findet eine Verschiebung statt, vom Dienstleistenden, der innerhalb der Grenzen seines Jobs verharrt und seine Fähigkeiten anbietet, zur Person des 21. Jahrhunderts, die sich selbst anbietet.
Be yourself, be Kirkegaard
Im Grunde ergibt sich diese Entwicklung als Folge der letzten 1000 Jahre Denkgeschichte. Ebenso wie zunehmende Nähe zum Produzenten rückt die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts das Leben des Einzelnen in den Mittelpunkt. Der philosophische Rahmen, der den Menschen bis damals beschloss, bestand eher aus der Untersuchung der menschliche Vernunft und des Absoluten, d.h. Metaphysischen, Unendlichen, Gott.
Die Gründe für die Wende hin zu einem humanzentrischen Weltbild sind gewiss vielfältig. Ein entscheidender Antrieb indes war die Aufklärung, die mit Leitsprüchen wie “Sapere aude” sich an den Menschen und seine Lebensführung richtete mit philosophischer Dogmatik, wie etwa dem Universalienproblem, Empirismus versus Rationalismus, bricht. Werke wie die Kritik der praktischen Vernunft lockern das enge Korsett der Bibelexegese auf. Der Mensch erkennt sich selbst im Spiegel und ist von seinem Anblick fasziniert genug, um kulturelle Höchstleistungen zu vollbringen, die in der Entmystifizierung und Entzauberung der eigenen Existenz gipfeln. Man wird eben mit Camus in dieses Leben “geworfen” und kann nichts anderes tun als gegen die Absurditäten der Conditio Humana anzukämpfen, die Gründe und Grenzen zu hinterfragen ist nicht lohnenswert. Die Postmoderne geht in vielen Aspekten noch weiter und spricht dem Menschen überhaupt die Fähigkeit ab, nach Gründen und Grenzen zu fragen. Der Mensch ist in jeder seiner Handlungen ein eklektischer Flickenteppich aus Erfahrungen, gebunden an Geschlecht, Herkunft, Klasse etc. die ihm einen Universalanspruch kategorisch verneinen. In dieser Denkensart ist die persönliche Erfahrung nun das einzig Relevante und mit dem typischen time-lag zwischen Kultur und Akademie, adaptiert die Kultur die neuen Paradigmen. Wie in der Philosophie bildet sich ein Trend von der Sache zum Menschen ab, der Einzelne in seiner Individuation wird zum Gegenstand der kulturellen Betrachtungen. Will man diese kulturelle Fokussierung empirisch fassen, ist eine Annäherung über die Kultererzeugnisse sinnvoll. Aus den biblischen Erzählungen und griechischen Gottesmythen (die wiederum inspiriert waren von Naturreligionen) wurde der Bildungsroman, aus dem Drama erwuchs der Alltagskrimi, schließlich wird heute das Gros über Realityshows unterhalten, näher am echten Leben geht kaum. Natürlich besteht hier nur eine bedingte Kausalität, da technologische und ökonomische Umwälzungen hier einen großen Teil beigetragen haben.
Diese parallelen Entwicklungen müssen nicht nur positiv betrachtet werden. Dass man den Nachrichtenmoderator, Lieblingsmusiker oder den Lifestyle-Coach nun persönlich kennenlernt, hat keinen wirklichen Mehrwert. Digitale, einseitige Beziehungen sind im Grunde eine gewaltige Zeitverschwendung, sie ersetzen echte zwischenmenschliche Beziehungen. Die Verschiebung des Wertes von Kompetenz hin zur Authentizität als Grundvoraussetzung kann sogar gefährlich sein. Das “Real-Sein” von Donald Trump ist unbestritten, für seine Eignung als Präsident gilt das nicht. Deswegen hier noch ein Postulat vorkant’scher Art: Authentische Selbstdarstellung im Internet ist immer fundamental inauthentisch.
Leo Hennig, 06.08.2016